Eine Titelseite für die Ewigkeit
Zur ersten Ausgabe der Zweiwochenschrift
Ossietzky
im neuen Jahr
Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) – Als ich vor 96 Jahren geboren wurde, litten
Millionen
Menschen auf allen Kontinenten unter den Folgen der
Weltwirtschaftskrise, die ihnen der Erste Weltkrieg
als Hinterlassenschaft
vor die Füße geworfen hatte. Massenhafte Arbeitslosigkeit, soziales
Elend und politische Krisen mündeten in die Herrschaft der
Nationalsozialisten und in den Zweiten Weltkrieg. Über Jahre hinweg
füllten
Hiobsbotschaften die Titelseiten der Zeitungen.
Das nahm auch kein Ende, als mit dem großen Vergessen Gras über
den Leichenbergen von Auschwitz, Maidanek und Sobibor zu wachsen
begann und Picassos Friedenstaube die Sehnsucht der Menschheit
nach Frieden beflügelte. Alle miteinander stumpften wir ab gegen fernen
Kriegslärm, sofern er unsere Urlaubspläne nicht berührte, bis es mit
einem Mal krachte vor der europäischen Haustür.
Auch ein Jahr danach ist das lähmende Entsetzen ob der Missetat nicht
gewichen. Mitten hinein in das lärmende Getöse platzte zu Beginn des
Jahres eine kleine Zeitschrift mit dem ruhmreichen Namen des von den
Nazis verfolgten und zu Tode gequälten Friedensnobelpreisträgers Carl
von Ossietzky. Das antimilitaristische und pazifistisch orientierte Blatt
steht in der Tradition der von Ossietzky während der Weimarer Zeit
herausgegebenen Zeitschriften
„Schaubühne“ und „Weltbühne“.
Die im traditionellen Rot gehaltene Titelseite wird optisch
beherrscht
von
einem einzigen Wort:
Frieden.
Darüber nur der Titel, darunter die Namen
der Autoren des aktuellen Heftes. Das Ganze wie üblich mit schwarzen
Balken umrahmt. In seiner Schlichtheit erinnert das Werk an Pablo
Picassos
Monumentalgemälde zum Gedenken an die Opfer von
Guernica.
Mich hat die kleine Titelseite in der Größe einer halben DIN-A 4-Seite
vom ersten Moment in ihren Bann geschlagen und – ich gebe es zu –
tief
gerührt. Kein Ausrufezeichen, kein Fragezeichnen. Ein Aufschrei,
gerichtet gegen den Kriegstreiber Putin, stellvertretend erhoben für die
vielen hunderttausend Anhänger der Friedensbewegung, von denen die
meisten das Blutvergießen auf den Schlachtfeldern der Ukraine und
Russlands wie gelähmt orientierungslos verfolgen.
Picasso äußerte sich im Dezember 1937 zu seiner künstlerischen
Haltung folgendermaßen: „Es ist mein Wunsch, Sie daran zu erinnern,
dass ich stets davon überzeugt war und noch immer davon überzeugt
bin, dass ein Künstler, der mit geistigen Werten lebt und umgeht,
angesichts eines Konflikts, in dem die höchsten Werte der Humanität
und Zivilisation auf dem Spiel stehen, sich nicht gleichgültig verhalten
kann.“