So war das mit Herrn Oberländer

So war das mit Herrn Oberländer

Conrad Taler

Auszug aus dem Buch „Gegen den Wind“, von Conrad Taler PapyRossa Verlag, Köln, 2017, S. 50 – 58

»Es fing damit an«, schrieb die liberale Schweizer Zeitung »Der Bund« am

18. März 1960, »dass ›Die Tat‹, das wöchentlich erscheinende Organ der

Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, im September 1959

behauptet hatte, Theodor Oberländer stehe unter dem Verdacht, im

letzten Weltkrieg an Massenmorden in Lemberg beteiligt gewesen zu sein.

«

Professor Theodor Oberländer, Doktor der Agrarwissenschaft und der

politischen Wissenschaft, war damals im siebenten Jahr Minister für

Flüchtlinge, Vertriebene und Kriegssachgeschädigte unter Bundeskanzler

Konrad Adenauer. Begonnen hatte seine Nachkriegskarriere im BHE, im

Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten. Noch bevor dieser an der

Fünfprozenthürde scheiterte, kehrte Oberländer seiner ursprünglichen

politischen Heimat den Rücken und wechselte zur CDU über. Nichts

deutete auf ein

vorzeitiges Ende seiner Ministerlaufbahn hin, bis plötzlich der erwähnte

Artikel alles veränderte.

Mein Schreibtisch stand damals in einem von Bomben stark beschädigten

Haus im Frankfurter Osten. Auf einer klapprigen Maschine tippte ich jenen

Beitrag, der am 26. September 1959 unter der Überschrift »Minister

Oberländer unter schwerem Verdacht« in der Frankfurter

antifaschistischen Wochenzeitung »Die Tat« erscheinen sollte. Geschildert

wurde folgender Sachverhalt: Oberländer hatte während der NS-Zeit einer

militärischen Sondereinheit angehört, die sich »Nachtigall« nannte. Sie war

Ende 1940 von der Abteilung II des Amtes Auslandsabwehr im

Oberkommando der Wehrmacht für einen künftigen Einsatz im Osten

aufgestellt worden und bestand aus nationalistisch gesinnten Ukrainern,

die sich auf die Seite der Deutschen geschlagen hatten. Mit dieser Einheit

nahm Oberländer als Verbindungsoffizier am Überfall auf die Sowjetunion

teil. Sie drang als erster Verband in die

Stadt Lemberg (Lwow) ein, wo seine Angehörigen – so hieß es in dem

Artikel – »beträchtliche Initiative« bei Säuberungen und Pogromen

entfaltet hätten. Mehr als dreißig Rechtsanwälte, Ärzte, Geistliche und

Wissenschaftler seien während der Anwesenheit der »Nachtigallen« in

Lemberg ermordet worden. Diese Darstellung stützte sich auf zwei

Quellen, die ich für seriös hielt: Auf ein Buch des CDU-

Bundestagsabgeordneten und früheren Geheimdienstoffiziers unter

Admiral Canaris, Dr. Paul Leverkühn, mit dem Titel »Der

geheime Nachrichtendienst der deutschen Wehrmacht«, und auf ein Buch

des amerikanischen Geschichtsforschers A. Dallin mit dem Titel »Deutsche

Herrschaft in Rußland 1941 – 1945«. Den Schuldvorwurf gegenüber

Oberländer leitete ich aus den geschilderten Einzelheiten ab.

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Als der Artikel in Satz ging, hatte ich nicht das Gefühl, eine weltbewegende

Sache auf den Weg gebracht zu haben. Hinweise auf die NS-Vergangenheit

von Politikern oder Richtern standen praktisch in jeder Ausgabe, ohne dass

es jemals ein nennenswertes Echo gegeben hat. Während ich guten

Gewissens den kommenden Tagen entgegensah, wartete in Bonn Theodor

Oberländer bereits ungeduldig auf »Die Tat«, die ihn ansonsten kaum

interessiert haben dürfte. Doch diesmal war alles anders. Die Redaktion

hatte nämlich in der vorausgegangenen Ausgabe ohne Namensnennung

ein Foto des Ministers veröffentlicht und Enthüllungen über die

Vergangenheit dieser – wie es hieß – heute hochgestellten Persönlichkeit

angekündigt. Davon muss Oberländer durch einen Informanten Wind

bekommen haben. Drucktechnisch

wurde »Die Tat« in Fulda hergestellt. Dort lief die Rotationsmaschine für

die Nummer 39 auch wie gewohnt an, aber in jener Woche warteten die

Leser vergeblich auf ihre Zeitung. Der Minister höchstpersönlich war nach

Fulda geeilt, um an Ort und Stelle die sofortige Beschlagnahme der

gesamten Ausgabe zu erwirken. Zu nächtlicher Stunde erließ ein

Amtsrichter – einen Bundesminister aus Bonn leibhaftig vor Augen – die

von Oberländer beantragte Verfügung.

Aber wie das im Leben mitunter so geht – die Absicht des Ministers

verkehrte sich in ihr Gegenteil. Nachdem die Nacht- und-Nebel-Aktion

bekannt geworden war, fragten die Zeitungen landauf und landab nach

den Gründen der Beschlagnahme. So erfuhr die Öffentlichkeit auf

Umwegen doch noch von den Vorwürfen, deren Verbreitung der Minister

hatte verhindern wollen. Die Sache entwickelte ihre eigene Dynamik. Der

Oberstaatsanwalt in Bonn forderte den Vertriebenenminister auf, sich zu

den Anschuldigungen zu äußern, und die Justizbehörden rückten nun auch

damit heraus, dass ihnen Material einer Verfolgtenorganisation über die

Lemberger Ereignisse vorlag. Gemeint war die Vereinigung der Verfolgten

des Naziregimes (VVN), von deren Vorstoß ich beim Abfassen meines

Artikels nichts wusste. Sonst hätte ich ihn selbstverständlich erwähnt.

Oberländer sah sich jedenfalls genötigt, vor der Presse zu den Vorwürfen

Stellung zu nehmen. Dabei räumte er seine Tätigkeit als

»Sachverständiger« des Bataillons »Nachtigall« ein, wies aber alle

Beschuldigungen im Zusammenhang mit den Vorkommnissen in der

ostgalizischen

Stadt als unzutreffend zurück. Die öffentliche Diskussion über die NS-

Vergangenheit des Ministers war aber nicht aufzuhalten.

Wer es bis dahin nicht gewusst hatte, der erfuhr nun, dass Oberländer sich

schon sehr früh für Hitlers Ideen erwärmt hatte. Er beteiligte sich 1923 am

Münchner Putschversuch der Nazis, am Marsch zur Feldherrnhalle und

schloss sich im Jahr der Machtübernahme Hitlers als »alter Kämpfer« auch

formell dessen Partei an. Neben seiner Tätigkeit als Professor für

Landwirtschaftspolitik in Danzig war er Amtsleiter im Gaustab Ostpreußen

der NSDAP und leitete als Experte für osteuropäische Fragen den

nationalsozialistischen »Bund Deutscher Osten«. Seiner Nachkriegskarriere

hat das nicht geschadet. Nun aber musste Adenauer sich sagen lassen,

einen intellektuellen Urheber der deutschen Tragödie im Osten an seinem

Kabinettstisch zu haben, dessen Verbleiben im Amt eine schwere

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Neutralität für die Ukraine?

Selenskij möchte mit Putin über einen Waffenstillstand verhandeln

Conrad Taler

Bremen (Weltexpresso) – Rascher als zu erwarten war, wird über eine mögliche Neutralität der Ukraine als Ausweg zur Beilegung des militärischen Konflikts an der Südflanke der Russischen Föderation diskutiert. Aus der Umgebung des ukrainischen Präsidenten Selenskij hieß es, ernsthafte Verhandlungen darüber seien durchaus möglich.

In den ARD-„Tagesthemen“ sagte der außenpolitische Berater Selenskijs, Showkwa, auf eine entsprechende Frage, allerdings müsste der russische Präsident Putin zu einem Treffen mit Selenskij bereit sein, was bisher nicht der Fall sei. Verhandlungen und eine mögliche Übereinkunft könnten aber erst zustande kommen, wenn die Kriegshandlungen aufgehört hätten und es einen Waffenstillstand gebe. Die internationalen Partner sollten helfen, ein solches Treffen zustande zu bringen.

Die Idee einer Neutralität für die Ukraine war bereits vor sieben Jahren vom ehemaligen amerikanischen Außenminister Henry Kissinger ins Gespräch gebracht worden, der dabei auf Finnland verwies, das eng mit dem Westen zusammenarbeite, jede Feindschaft zu Russland aber laut Verfassungsgebot sorgfältig vermeide (siehe Weltexpresso 8. 3. 2022). Ein weiteres Beispiel eigenen Wohlstandes durch eine militärisch ungebundene Politik bietet Österreich, das sich seine Unabhängigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg durch das Bekenntnis zur Neutralität auf Dauer sicherte. Das geschah am 26. Oktober 1955 durch ein Gesetz, dessen entscheidende Sätze so lauten:

„Zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zweck der Unverletzlichkeit seines Gebietes erklärt Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität. Österreich wird diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen. Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in der Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiet nicht zu lassen.“

Formell hatte Österreich seine volle Souveränität durch den am 15. Mai 1955 unterzeichneten Staatsvertrag erhalten. Als Nationalfeiertag wird jedoch der 26. Oktober begangen, an dem sich der Nationalrat, das Parlament des Landes, zur immerwährenden Neutralität verpflichtete, die im Staatsvertrag nicht auftaucht. Zahlreiche Meinungsumfragen belegen, dass die Neutralität von der Bevölkerung stets voll akzeptiert wurde und als Teil der österreichischen Identität empfunden wird. Daran änderte sich auch nichts, als Österreich 1994 gemeinsam mit Finnland und Schweden der europäischen Union beitrat.

Es war Moskau, das bei den Verhandlungen über den künftigen Status von Österreich auf dessen Neutralität drängte. Die österreichische Delegation, zu der neben den konservativen Politikern Julius Raab und Leopold Figl auch dessen sozialdemokratischer Staatssekretär Bruno Kreisky gehörte, legte Wert auf die Feststellung, dass es nicht um eine Gesinnungsneutralität oder einen dritten Weg zwischen Ost und West gehen könne. Die gesamte Politik müsse darauf angelegt sein, im Falle eines Krieges die Neutralität aufrechterhalten zu können.

Man darf gespannt sein, mit welchen Ideen sich die Bundesregierung in die Beratungen über den künftigen Status der Ukraine einbringen und wie sie den Begriff Neutralität interpretieren wird.

Cäsarenwahn


Cäsarenwahn

O ffener Brief eines Antifaschisten an Wladimir Putin

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso)

Herr Präsident, diesen Offenen Brief schreibt Ihnen der Sohn eines deutschen Antifaschisten, der gegen seinen Willen für Hitler in den Krieg ziehen musste und während der Kämpfe um Berlin in sowjetische Gefangenschaft geriet. Inzwischen bin ich 95 Jahre alt geworden und habe mein ganzes Leben damit zugebracht, die Menschen vor dem Ungeist des Nazismus und einem neuen Weltenbrand zu warnen. Dabei stand ich immer an der Seite Russlands. Und jetzt fallen Sie mir in den Rücken.


Ihr Angriff auf die Ukraine macht alles zunichte, was im Laufe von Jahrzehnten mühsam erstritten worden ist, zum Beispiel die Erkenntnis, dass militärische Gewalt keines der Probleme aus der Welt schafft, die sich aus der Kluft zwischen Arm und Reich ergeben. Hundert Milliarden Euro sollen in den nächsten Jahrzehnten allein in Deutschland zur Stärkung der Streitkräfte aufgewendet werden, weil Ihr Krieg gegen die Ukraine allen Angst macht. Sie wollen die Ukraine entmilitarisieren und verursachen gleichzeitig ein noch nie da gewesenes Wettrüsten.

Sie wollen die Ukraine entnazifizieren und sind isoliert wie nie zuvor. Nur vier der 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen unterstützten bei der Abstimmung in der Vollversammlung Ihre so genannten „Spezialoperationen“ gegen die Ukraine, 141 stimmten dagegen und 35 Staaten enthielten sich.

Als die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges 1945 in Potsdam beschlossen, Deutschland zu demilitarisieren und zu denazifizieren, konnten sie auf die bedingungslose Kapitulation Deutschlands verweisen. Sie, Herr Putin wähnen sich in Ihrem Cäsarenwahn anscheinend in einer ähnlichen Position, dabei wollen Sie – folgt man ihrer Rede von 24. Februar – nicht einmal die ganze Ukraine besetzten. Der gleichen Selbstüberhebung entspringt ihre Ankündigung, diejenigen vor Gericht zu bringen, die „zahlreiche blutige Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, einschließlich russischer Bürger“, begangen hätten. Auch da meinen Sie, es den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges und deren Forderung nach Aburteilung der Hauptkriegsverbrecher gleich tun zu müssen.

Nicht alles, was in den vergangenen Jahren in der Ukraine passiert ist, entspricht demokratischen Spielregeln. Ihre Behauptung jedoch, Herr Putin, Russland könne sich „nicht sicher fühlen, sich nicht entwickeln und nicht existieren, wenn es ständig von der Ukraine bedroht“ werde, richtet sich selbst. Da fühlt sich jemand zu Unrecht verfolgt, dem jede Rolle auf der Bühne des großen Welttheaters zugetraut werden kann, nur nicht die der Unschuld vom Lande.

Foto: ©furche.at