SPD-Politikerin bedient sich der Rhetorik Konrad Adenauers
Conrad Taler
„
Wir brauchen militärische Stärke, damit unser Frieden erhalten bleibt – und mit ihm
unsere Freiheit“. Mit diesen Worten warb die deutsche Verteidigungsministerin
Christine Lambrecht (SPD) kürzlich auf einer Tagung in Berlin um Verständnis dafür,
dass die Bundeswehr aus einem Extratopf im Umfang von 100 Milliarden Euro
modernisiert werden soll. Die meisten Menschen in unserem Land hätten das auch
erkannt.
Der rhetorische Rückgriff in die Mottenkiste der Adenauerschen Politik der Stärke
lässt außer Acht, dass es nicht die militärische Stärke des Westens gewesen ist, die
den Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer europäischen Verbündeten
herbeigeführt hat, sondern deren eigene Schwäche. Sie resultierte aus der
Untauglichkeit einer zentral gelenkten Wirtschaft für das tägliche Leben. Jedes
politische System, das den Menschen als schöpferisches Wesen negiert, ist zum
Scheitern verurteilt.
Dass die kommunistisch geführte Volksrepublik China gleichwohl binnen historisch
kürzester Zeit zu einer wirtschaftlichen Weltmacht aufsteigen konnte, hat seinen
Grund. Der Privatsektor macht 61 Prozent von Chinas Bruttosozialprodukt aus, der
öffentliche Sektor nur 39 Prozent. Diese Zahlen nannte einer der profundesten
Analysten des chinesischen System, Kevin Rudd, ehemals australischer
Premierminister, jetzt Präsident der Asia Society. „Wir nennen das
Staatskapitalismus“, sagte er im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung vom 8./9.
10. 2022 zur Charakterisierung des chinesischen Wirtschaftssystems Mit seinem
Marxismus-Leninismus bietet China nach Rudds Ansicht der sich entwickelnden Welt
ein Wachstumsmodell zur Nachahmung an. Vor diesem Hintergrund klingt
Lambrechts Ruf nach militärischer Stärke wie das Echo einer fernen Epoche.
Das gilt auch für die Debatte über den Einsatz taktischer Atomwaffen bei
kriegerischen Konflikten. In seiner Rede zur Teilmobilmachung in der Russischen
Föderation warf deren Präsident Wladimir Putin am 21. September Washington,
London und Brüssel vor, gegenüber seinem Land zur nuklearen Erpressung gegriffen
zu haben. Wörtlich fügte er hinzu: „In Falle einer Bedrohung der territorialen Integrität
unseres Landes und zur Verteidigung Russlands und unseres Volkes werden wir mit
Sicherheit von allen uns zur Verfügung stehenden Waffensystemen Gebrauch
machen.“ Einige von ihnen seien moderner als die Waffen der Nato-Länder.
Der amerikanische Präsident Joe Biden hat nach Medienberichten am 6. Oktober vor
der Gefahr einer nuklearen Konfrontation mit Russland gewarnt. Bei einer
Spendengala seiner demokratischen Partei für die Kongresswahlen im November
sagte er in New York, die Welt habe seit der Kuba-Krise 1962 nicht vor der Aussicht
auf ein „Armageddon“ gestanden. Das berichteten nach Schilderung der „Frankfurter
Allgemeinen“ vom 8. Oktober 2022 mitreisende Journalisten, die allerdings nicht mit
im Raum gesessen hätten.
Weiter habe Biden gesagt, er kenne den russischen Präsidenten Putin ziemlich gut.
Dieser scherze nicht, wenn er über den potentiellen Einsatz taktischer Atomwaffen
sowie über Chemie- und Biowaffen spreche. Er, Biden, glaube nicht, dass es möglich
wäre, einfach taktische Atomwaffen einzusetzen, ohne dass dies zu einem
„Armageddon“ führen würde. Der Begriff spielt auf die Offenbarung des Johannes an
und ist die Umschreibung des Weltuntergangs. („Geht und gießt die sieben Schalen
mit dem Zorn Gottes über die Erde.“) Damit sollte angedeutet werden, dass der
Einsatz taktischer Atomwaffen unweigerlich den Einsatz von Interkontinentalraketen
und damit das atomare Inferno nach sich ziehen würde.
Dem Leitartikler der „Süddeutschen Zeitung“ Daniel Brössler kommt die Antwort
Bidens zu zimperlich vor. Wer wie der US-Präsident die Gefahr einer nuklearen
Eskalation für real halte, schreibt er in der Ausgabe vom 8./9. Oktober, lasse sich in
seinen Entscheidungen vom Bestreben leiten, Risiken zu minimieren. Von Anfang an
habe Biden der enormen Waffenhilfe für die von Russland überfallene Ukraine
Grenzen gesetzt. „Das Problem ist“, heißt es wörtlich weiter, „dass Putin jedem
Appell an die Vernunft eine neue Stufe des kalkulierten Wahnsinns entgegensetzt
…
Der Westen sieht sich im Kreml einem scheinbar vollends enthemmten
Imperialisten und routinierten Massenmörder gegenüber…Natürlich ist nun äußerste
Vorsicht das Gebot. Nur: Worin besteht sie? Gefährlicher als die nukleare
Erpressung ist nur die Kapitulation vor ihr.“
„
So gute Gründe es geben mag“, fährt Brössler fort, „der Ukraine diesen oder jenen
Waffenwunsch zu verweigern, so trügerisch ist die nicht zuletzt in Deutschland
anzutreffende Sehnsucht, Putin durch weniger oder vielleicht auch gleich durch gar
keine Waffen mehr für die Ukraine zur Raison zu bringen … Das wäre dann wohl
auch der Augenblick, in dem Putin … das Zünden einer ‚kleinen’ taktischen
Atomwaffe für eine gute Idee hielte … Er denke nicht, dass es möglich sei, taktische
Atomwaffen einzusetzen, ohne dass es am Ende ein Armageddon gebe, hat Biden
gesagt. Gedacht war das sicher auch als Botschaft an Putin. Zu befürchten ist, dass
Russlands Herrscher etwas anderes gehört hat: Angst.“
Hätte Biden, um von Putin richtig verstanden zu werden, also kräftig auf die Pauke
hauen sollen, egal was dabei herauskommt? Vor mehr als 60 Jahren habe ich eine
ähnliche Diskussion schon einmal erlebt. Auch damals ging es um die Frage, ob den
Menschen im Konflikt zwischen Ost und West der Einsatz taktischer Atomwaffen
zugemutet werden kann Der ehemalige Nazi-Generalstabsoffizier Adelbert
Weinstein, nunmehr militärwissenschaftlicher Mitarbeiter der „Frankfurter
Allgemeinen Zeitung“, forderte in der Ausgabe vom 14. Januar 1959 in einem
Leitartikel von den Deutschen die innere Bereitschaft zu einem lokalen Krieg unter
den Bedingungen der damals entwickelten taktischen Atomwaffen. Dieser Krieg
würde „allerdings für uns total sein, und wir wissen, was das heißt.“ Ob die deutsche
Verteidigungsministerin diese Diskussionen im Hinterkopf hat, wenn sie in einer Zeit
politischer Hochspannung nach militärischer Stärke ruft?